Humandifferenzierung
Panel auf der DGS-Jahrestagung "Klassen, Klassifikationen, Klassifizierungen"
Der Sonderforschungsbereich ist auf der Tagung "Klassen, Klassifikationen, Klassifizierungen" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (23.-25. September) mit einem eigenen Panel vertreten.
Das Panel enthält folgende Beiträge:
Stefan Hirschauer: Unterscheiden, kategorisieren, klassifizieren, dissimilieren. Momente der Humandifferenzierung
Das Klassifizieren gehört zu den Elementartechniken vieler Disziplinen, von der zoologischen und botanischen Taxonomie bis zur soziale Klassen definierenden Sozialstrukturanalyse. Es wird aber auch seit langem als Gegenstand eigenen Rechts in zahlreichen Sozial- und Kulturwissenschaften bearbeitet, darunter die Geschichts- und Sprachwissenschaften, die Ethnologie und Soziologie. Der SFB Humandifferenzierung integriert die Perspektiven dieser Fächer mit einer gegenüber dem soziologischen Klassenbegriff zweifachen Weiterung: Erstens geht er von einer Vielzahl kultureller Klassen aus (z.B. Alters-, Geschlechts-, Leistungsklassen), die sich um Kategorien imaginierter Gruppen bilden und nur unter spezifischen Bedingungen auch zu sozialen Formationen kristallisieren. Zweitens zieht er das Thema der Klassifikation unter das Dach einer praxeologischen Differenzierungstheorie, die das Klassifizieren nur als einen speziellen Fall der Unterscheidung von Menschen fasst: eine explizit vergleichende wissenschaftliche oder bürokratische Praxis (mit einem spezifischen Umgang mit Ambiguitätsproblemen), die sich u.a. abhebt von den vorsprachlichen Unterscheidungen des ‚Geschmacks‘, den Kategorisierungen der Alltagssprache und des Mediendiskurses, den körperlichen Dissimilierungen der sozialisatorischen Entähnlichung von Menschen oder der gruppistischen Formation imaginierter Gemeinschaften. Die Humandifferenzierung ist die Theorieperspektive, die dem Klassenbegriff neue Grundlagen gibt.
Tobias Boll: Sexualitäten und ihre Menschen: Sexuelle Humandifferenzierung
Im Anschluss an Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung untersucht der Beitrag Sexualität als ein Feld von Prozessen der Kategorisierung und Klassifikation von Menschen. Entgegen der gängigen Fragestellung, wie Individuen zu ‚ihrer‘ Sexualität kommen, wird erörtert, wie ‚Sexualitäten‘ als kulturelle Konstruktionen zu ihren Menschen gelangen. Ein differenzierungstheoretischer Zugang zum Phänomen Sexualität wird entwickelt, indem Sexualität als Produkt einer zweifachen Ausdifferenzierung betrachtet wird: zum einen als Unterscheidung des ‚Sexuellen‘ von allem anderen – dem ‚nicht Sexuellen‘ –, zum anderen als Ergebnis einer Binnendifferenzierung des Sexuellen in ‚Sexualitäten‘. Diese Überlegungen zur zweifachen Ausdifferenzierung des Sexuellen werden mit dem Konzept einer sexuellen Humandifferenzierung verknüpft, um zu diskutieren, wie die Unterscheidung von Sexualitäten in Verbindung mit der Differenzierung von Menschen in anderen Hinsichten zusammengedacht werden kann. Diese Verschränkungen werden anhand von drei prominenten Beispielen illustriert: der Unterscheidung von Menschen nach Geschlecht, Alter und Behinderung bzw. Dis/Ability. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, wie die so entstandenen Sexualitäten ihr ‚Personal‘ rekrutieren und wie Sexualitäten ihre Menschen erhalten.
Ruth Gehrmann: Alters(t)räume: Selbst- und Fremdsegregation im hohen Alter
Die Kategorie des „Altseins“ tendiert dazu mit sozialer Isolation verbunden zu werden. Das Altenheim erscheint hierfür exemplarisch und wird so zu einem Raum am Rande der Gesellschaft. Dem entgegen steht die Selbstsegregation aufgrund von Alter: Dem Gedanken folgend, dass höheres Alter auch spezifische Wünsche mit sich bringt, formt die Retirement Community „The Villages“ in Florida einen neuen Raum basierend auf dem Alter der Bewohner*innen. The Villages bewirbt sich nicht nur als „Florida’s Friendliest Hometown“ sondern auch als „fastest growing metro area“.
Der Vortrag nimmt diese Form der Selbstsegregation in den Blick: Inwiefern schafft sie eine neue Art der Humandifferenzierung, die die vorherige Kategorie des Alters obsolet macht? Denn, um einen Raum wie The Villages zu planen, muss man zunächst von gemeinsamen Interessen und Ansprüchen von Menschen eines bestimmten Alters ausgehen. Interne Unterschiede werden in der Gründung einer neuen Community unsichtbar, so dass ein Spannungsfeld zwischen Segregation nach außen und der Vereinheitlichung nach innen zu beobachten ist.
Sascha Dickel: Sind sie schon da? Die Klassifikationen künstlicher Intelligenzen
Leben wir bereits im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI)? Ist KI etwas, das erst in Zukunft erreicht wird? Oder bleibt KI ein Gegenstand technologischer Spekulation? Der Beitrag argumentiert, dass es keine rein technische, sondern auch und gerade eine kulturelle Frage ist, welche Entitäten als Künstliche Intelligenzen kategorisiert werden und unter welchen Bedingungen diese Kategorisierung gesellschaftliche Akzeptanz findet. Es handelt sich bei KI um Entitäten, deren Realitätsstatus kulturell strittig ist. KI sollte von der Soziologie daher nicht unreflektiert als analytischer Begriff verwendet, sondern als kulturelle Kategorie untersucht werden. Dies unternimmt der Vortrag anhand einer Analyse des technologischen Rennens hin zu einer „Artificial General Intelligence“ (AGI), also dem Ziel einer ‚menschenähnlichen KI‘. Eine solche AGI wird aktuell explizit als Ziel der führender Technologiefirmen kommuniziert. Die angestrebte Menschähnlichkeit reproduziert dabei das Bild des Menschen als eines erwachsenen und ökonomisch fähigen Akteurs. Angesichts der weiterhin laufenden Debatte ob mit der aktuell existierenden generativen KI nun eine ‚echte‘ KI erreicht ist, kann das Rennen hin zu einer AGI als Temporalisierung der Frage nach dem Realitätsstatus von KI betrachtet werden.